idea - Pressedienst Sommer 98
Was die Kirche von der Industrie lernen kann
Andrea von Parpart


(Ihre ungewöhnliche Biographie hat sie auf kirchliche und industrielle Arbeitsfelder geführt: Andrea von Parpart, 45, war von 1978 bis 1983 Landespfarrerin für Kindergottesdienst und Jugendarbeit der westfälischen Landeskirche. Doch mit dem "Unternehmen" Kirche kam sie nicht zurecht, weshalb sie sich dazu entschloß, eine Kfz-Lehre zu absolvieren. Nach der Meisterschule ging sie ins Management von Opel. Christliche Exerzitien - zunächst bei ev. Benediktinerinnen auf dem Schwanberg, später auch im Bereich der katholischen Kirche -brachten sie 1992 dazu, nach reiflicher Überlegung in den kirchlichen Dienst zurückzukehren. Hauptberuflich arbeitet Andrea von Parpart heute als Pfarrerin der evangelischen Kirchengemeinde Latdorf bei Dessau, nebenbei führt sie eine kleine Unternehmensberatung. Die wirtschaftserfahrene Theologin präsentiert im folgenden Gedanken, was die Kirche von der Industrie lernen kann. Motiv ihrer Kritik ist, wie sie selbst sagt, Leiden an ihrer Kirche aber eben auch die Liebe zur Kirche. Der folgende Beitrag ist ein Auszug aus einem Vortrag, der in der ev. Kirchengemeinde Haiger am April 1998 gehalten wurde.)

Kirche und Industrie - sind das nicht unvereinbare Gegensätze? Was gibt es da nicht für gegenseitige Zerrbilder! In der Industrie gehe es mit harten Bandagen zu, meint man oft bei Kirchens, nur der Erfolg zähle, Ethik und Moral stünden hinten an und für Schwache sei kein Platz. Nicht weniger krass sieht man von der Industrie her Kirche: das sei ein Sammelbecken für Lebensuntüchtige, die auch sonst in der Welt nicht zurechtkämen. Schwache, Kinder, Frauen und Alte würden dort liebevoll betütelt. Für Familienfeste sei die Kirche ja ganz nett - zumindest in Westdeutschland, im Osten kann man auch auf diesen Service verzichten - aber ansonsten geschähe dort nichts weltbewegendes...

Zerrbilder wie gesagt. Aber mit fatalen Folgen. Warum sitzen in Aufsichtsräten keine kirchlichen Vertreter, wohl aber Esoterik-Berater? Woher kommt denn die angebliche Unterwanderung von manchen Unternehmen durch Scientology? Aus meiner unternehmerischen Erfahrung meine ich sagen zu können: man sucht sehr wohl nach Werten, Orientierung und Maßstäben für ethisches Handeln. Aber man sucht sie nicht mehr bei Kirche!

Auf der anderen Seite weigert man sich in kirchlichen Kreisen oft, über Strategien und Methoden nachzudenken. Auch wenn man nur in streng pietistischen Kreisen behauptet, derartiges Denken sei vom Teufel, so erscheint es doch häufig als anrüchig, sich Gedanken über das "Wie" zu machen. Ich halte es hier mit dem Gleichnis vom Sämann: Er kann nicht machen, daß die Saat aufgeht. Er kann den Samen nicht wachsen lassen. Das liegt allein in Gottes Hand. Aber er kann sein Feld bestellen, pflügen, säen, düngen, bewässern und was alles noch dazugehört. Stellen Sie sich vor, er täte das nicht! Wir würden alle verhungern.
Im folgenden mache ich mir einige Gedanken über das "Wie".

Ohne Zweifel: Die Kirche unterscheidet sich in ihrem "Produkt" von der Wirtschaft. Aber in ihrer Struktur gleicht sie jedem anderen x-beliebigen Unternehmen. Dies hat sich bis in die obersten Etagen des kirchlichen Managements inzwischen herumgesprochen. So nimmt es nicht wunder, daß auch das Unternehmen Kirche die Dienste professioneller Unternehmensberatungsfirmen in Anspruch nimmt. Die Münchner Kirchenkreise ließen sich sogar von McKinesy beraten, ein Schritt, der nicht wenig Staub aufgewirbelt hat. Wer die McKinsey-Studie zur Kirche in München gelesen hat, weiß, wie schlecht das Unternehmen Kirche funktioniert. Und in meiner Landeskirche - es handelt sich um die evangelische Landeskirche Anhalts - verhält es sich nicht anders:

  1. Wo man hinblickt: es herrscht wenig Professionalität: Ostdeutsche Gemeinden haben beispielsweise keine Miet- und Pachtverwalter, das sollen die Pfarrer übernehmen.
  2. Kalte, baufällige, ungemütliche Kirchen: Fast in jedem Supermarkt gibt es bessere, freundlichere und wärmere Sitzgelegenheiten.
  3. Versorgungsdenken anstelle missionarischer Strategien. Hier versucht man mit Macht, die gesamten volkskirchlichen Strukturen aus dem Westen dem Osten aufzupropfen. Man vergißt dabei, daß wir mit einem Bevölkerungsanteil zwischen 10 und 15% längst die Zahlen einer Freikirche erreicht haben und belastet sich mit den Leitbildern einer flächendeckenden Versorgungskirche. In meiner Gemeinde ist es - und das ist leider typisch - so, daß 2/3 meinenr Gemeindeglieder über 60 Jahre alt sind. Unten kommt nichts nach. Das Verhältnis Taufen zu Beerdigungen ist 1 : 7 bis 1:10. Wenn hier nicht neue Wege gesucht und gewagt werden, werden wir noch den Niedergang der Landeskirchen in Ostdeutschland erleben.
  4. Schlechte Identifizierung der Mitarbeiter mit dem Arbeitgeber (so beginnt eine Selbstdarstellung der Nordelbischen Kirche mit dem Satz ,,Wenn ich nicht Pfarrer wäre, würde ich auch nicht jeden Sonntag zum Gottesdienst gehen..." Im Blick auf meine Arbeit in der Wirtschaft muß ich dagegen sagen: Wenn ich als Opel-Angestellte ein anderes Auto als einen Opel gefahren hätte, wäre meine Karriere damit beendet gewesen).
  5. 5. Führungsverhalten von gestern: Druck und Kontrolle. Urlaubsgenehmigungen gehen bei uns über den Kreisoberpfarrer bis zum landeskirchlichen Personalchef, Fahrtkosten müssen aus sieben verschiedenen Töpfen abgerechnet werden und gehen ebenfalls durch zwei bis drei Instanzen. Termine werden von oben ohne vorherige Absprache "reingedrückt" usw.
  6. Die Bürokratie ufert aus. Ich erinnere mich z.B. daran, wie die landeskirchliche Baudezernentin bei einem Besuch zufällig bemerkte, daß wir eine Wand im Pfarrhaus herausgerissen hatten, um unseren Gemeinderaum zu vergrößern. Dies hätte genehmigt werden müssen. Ich möge doch bitte die Kostenvoranschläge nachreichen und um Genehmigung ersuchen. Dies tat ich mit einem formlosen Schreiben, dem ich die Angebote beifügte. Wochen geschah nichts. Dann erhielt ich ein Schreiben, mein Antrag könne nicht bearbeitet werden, da ich nicht das vorgeschriebene Formular benutzt hätte. Wir suchten und fanden tatsächlich noch einen Bauantrag. Ich füllte ihn aus, mein Vorgesetzter gab seinen Senf dazu und wiederum ging die Angelegenheit nach Dessau (dort sitzt unser Landeskirchenamt). Nach einigen Wochen kam die Antwort: der Antrag könne leider noch immer nicht bearbeitet werden, da wir ein veraltertes Formular benutzt hätten. Das aktuelle Formular war nicht beigefügt. Ich verzichtete auf eine weitere Bearbeitung.
  7. Es herrscht häufig kein partnerschaftlicher Umgang zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern, sondern streng hierarchisch geprägte Beziehungen. Oft gibt es keine klaren Strukturen gemäß dem Ideal vom "primus inter pares" (Erster unter Gleichen). In meiner Landeskirche sieht das z.B. so aus, daß unser Kirchenpräsident den anderen Landeskirchenräten nichts zu sagen hat, was der allgemeinen Arbeit nicht unbedingt dienlich ist. Derartige ungeklärte Machtverhältnisse führen meist dazu, daß fleißig an den Stühlen gesägt wird.
  8. Keine Vorwärts- sondern nur Rückwärts-Strategien. Die Kirchen sind um jeden Preis zu erhalten, heißt die landeskirchliche Devise. Jeder Pfennig soll in der Erhaltung der baufälligen Gebäude gesteckt werden. Pfarrhäuser dürfen weiter verfallen oder verkauft werden. Da es keine Gemeindezentren wie in Westdeutschland gibt, sind die Pfarrhäuser die einzige Versammlungsmöglichketi für die inzwischen klein und wenig gewordenen Gruppen. Aber sie haben keinen Stellenwert in der landeskirchlichen Planung. Dazu kommt: der Jugend - letzten Endes der eigenen Zukunft - wird keine besondere Bedeutung beigemessen.

    Von der Unternehmensführung her muß ich sagen: Die Automobilkonzerne, in denen ich gearbeitet habe, wurden weit professioneller geführt als das Unternehmen Kirche.


Vom "Produkt" her unterscheidet sich Kirche von der Industrie. Aber können wir dieses "Produkt" eindeutig definieren? Ein Automobilkonzern verkauft heutzutage viel mehr als Autos. In jedes einzelne Auto werden Botschaften hineingelegt wie: "Unsere Autos stehen für die Erhaltung der Umwelt"; "wer dieses Produkt fährt, hat es geschafft"; "wir schaffen eine bessere Welt, indem wir Mobilität ermöglichen".
Was "verkauft" Kirche eigentlich? Offensichtlich scheint es sich um einen Ladenhüter zu handeln, denn kaum jemand ist noch bereit, dafür Zeit geschweige denn Geld zu investieren. Dazu ein kleines Beispiel aus meiner Landgemeinde: Ich betreue als Pfarrerin zur Zeit ca. 800 Mitglieder, verteilt auf sieben Dörfer. Es gilt, mit einem regulären Haushalt von 50.000 Mark im Jahr vier verfallene Kirchen und drei renovierungsbedürftige Pfarrhäuser zu unterhalten. (Anmerkung: Sie haben richtig gehört: uns stehen gerade einmal DM 50.000,- für die gesamte Gemeindearbeit im Jahr inklusive Bauunterhaltung usw. zur Verfügung. Wir haben keine Sekretärin, keinen Küster, niemanden außer der Pfarrerin im hauptamtlichen Dienst!). Anstatt sich von diesem Ballast zu trennen, wird von oben her - Thema Versorgungskirche - darauf gedrungen, daß möglichst an jedem Ort Gottesdienst sein soll. Ich habe - leider noch wechselnde - Zentralgottesdienste eingeführt. Ein Bus holt die Leute von Zuhause ab. Leider wird dieser Service kaum angenommen. Bis zu Aldi oder Kaufland fahren die Leute unter weit mühseligeren Bedingungen locker 15 Kilometer. Aber zwei Kilometer bis zur nächsten Kirche sind offenbar zu weit. Anscheinend gibt es dort, im Gegensatz zu Aldi, nichts Lebenswichtiges! Und bei Aldi gibt es mehr, Vielfältigeres, nicht nur ein Programm, so wie bei der Kirche. Kein Autohersteller könnte mit einem Nischenprodukt überleben, das nur zwei Prozent seiner Kaufinteressenten erreicht. Kirche leistet sich diesen Luxus Jahr für Jahr. Die Abstimmung ihrer Mitglieder mit den Füßen ist die Antwort.

Allerdings: So eine lange Unternehmensgeschichte wie die Kirche hat kaum ein Unternehmen aufzuweisen. Dies hat Vor- und Nachteile. Auf die Vorteile wie z.B. liturgische Traditionen, den Ursprung der Diakonie etc. will ich hier nicht eingehen. In unserer schnellebigen Zeit im Zeichen der Globalisierung scheinen mir die Nachteile schwerwiegender: Da erlauben sich zum Beispiel die einzelnen Landeskirchen wieder, eigene Gesangbücher einzuführen. Jede Landeskirche hat eine eigene Meinung zu strittigen Fragen, so bei der Segnung homosexueller Paare. Dazu kommt, daß die einzelnen Landeskirchen oft ineinander verschachtelte Gebiete haben, was nicht nur die Kirchensteuerabrechnung verkompliziert. Viele Kollegen von mir haben keine zusammenhängenden Gebiete. Auch ich muß erst durch das Gebiet der anderen Landeskirche fahren, um das letzte meiner sieben Dörfer zu erreichen. Kommunal- und Gemeindegrenzen weichen voneinander ab, was im Osten die Gemeindemitgliedererfassung sehr arbeitsintensiv werden läßt. Die meisten östlichen Landeskirchen sind praktisch pleite. Weiter viel Geld da hineinzupumpen, reicht nicht aus. Hier bedarf es größerer Strategien. Aber vielleicht werden die erst möglich sein, wenn wie in der Industrie die großen Landeskirchen die kleinen fressen.

Fazit: Kirche ist ein schlecht geführtes Unternehmen mit einem nicht genau definierten Produkt ohne klare Zielvorstellungen und Strategien für die Zukunft.
Soweit die Analyse. Und nun Thesen zur Verbesserung:

1. Zielorientiertheit
Wo wollen wir hin? Welche Regeln sollen bei uns gelten? Aufgrund welcher Leitsätze wollen wir unsere Entscheidungen fällen? Jede Kirchenleitung, aber auch jedes Presbyterium ist hier gefragt. Ich könnte mir vorstellen, daß auf EKD-Ebene übergeordnete Ziele formuliert werden, die dann nach entsprechender Diskussion auf die einzelnen Landeskirchen und schließlich die Gemeinden herunter gebrochen werden. Dabei sollte man sich bewußt machen, daß diese Ziele und Grundsätze nicht für die Ewigkeit bestehen. Sie bedürfen regelmäßiger Reflektion und Überarbeitung.

Als ich in Latdorf anfing vor drei Jahren, da habe ich als erstes zusammen mit dem Gemeindekircherat Ziel und Leitlinien unserer Arbeit definiert. Wir machten eine Befragung aller Bürger - nicht nur der Gemeindemitglieder! -. Aufgrund der Antworten formulierten wir unser Ziel: Wir wollen als Kirchengemeinde offen und einladend sein für Menschen, die sich auf den Weg mit Gott machen." Wir eingten uns auch auf folgende Grundsätze:

  • Priestertum aller Gläubigen
    Inzwischen haben wir umformuliert: alle machen mit.

    Gemeint ist folgendes: Ich kann zwar eine ganze Menge. Aber ich kann mich nicht teilen. Überall bin ich auf Ergänzung und Hilfestellung angewiesen. Auch beim Gottesdienst möchte ich möglichst viele Menschen beteiligen.

  • Sog statt Druck
    Niemand kommt heute mehr aufgrund irgendwelcher gesellschaftlicher Druckmechanismen zur Kirche. Im Gegenteil: bei Druck entziehen sich die Menschen. Es gilt, Ausstrahlung zu entwickeln, so daß sich Menschen zu unserer Gemeinde hingezogen fühlen. Latdorf zu einem Zentrum mit geistlicher Ausstrahlung zu machen, darum geht es. Merken Sie: hier bewegen wir uns wieder zurück zu einer 2. Komm-Struktur, weg von einer Geh-Struktur, die unter den Bedingungen, unter denen ich arbeite, einfach nicht mehr durchzuhalten ist. Hier versuchen wir, in einer Sache wirklich gut zu sein, Qualität statt Quantität zu bieten. Vorbild ist uns das griechische Restaurant im Dorf. Man glaubt es kaum: Latdorf verfügt über einen Nobel-Griechen. Von überall her kommen die Menschen. Vielleicht wird er irgendwann Dependanzen aufmachen.

    Aus diesem Grund haben wir übrigens die Konfirmandenprüfungen abgeschafft. Statt dessen gestalten die Konfis hin und wieder einen Gottesdienst.

  • Person vor Sache
    In unserer heutigen Zeit stehen oft Sachzwänge, Finanzen und ähnliches an erster Stelle. Wir wollen bewußt den Menschen in den Vordergrund stellen. "Athmosphäre" ist ein zentrales Stichwort an dieser Stelle.

  • Was nicht regelmäßig geschieht, wird in der Regel mäßig
    Dieser Leitsatz soll uns vor Überforderung, aber auch vor Strohfeuern bewahren.

2. Kundenorientiertheit
In Finnland gehen nur 2 Prozent der Kirchenmitglieder zum Gottesdienst. Und die restlichen 98 Prozent kommen nicht wegen dieser 2 Prozent. Sie denken über die: "Die sind zu fromm und langweilig, die mögen halt alte Kirchenmusik und die verstaubte Sprache und die Liturgie." Es gilt vom Fernsehen zu lernen und neben traditionellen Gottesdiensten ein zweites und drittes Programm zu installieren. Aber wissen Kirchenleute, was ihre "Kunden" wollen? Ein gutes Mittel sind regelmäßige Befragungen. In meiner Gemeinde Latdorf haben wir nicht nur die Gemeindeglieder, sondern alle Einwohner befragt. Auch unser Gemeindebrief geht bewußt kostenlos an alle Haushalte. Und was die Gottesdienstprogramme betrifft: Wir feiern jeden Donnerstag abend einen Gottesdienst, wo man miteinander austauscht, was man erlebt hat, was einem auf dem Herzen liegt, worüber wir beten können. Und genau das tun wir dann miteinander. Das besondere an diesem Gottesdienst ist, daß er auch dann stattfindet, wenn ich nicht da bin. Es gibt einen einfachen Ablauf, den jeder Laie nachvollziehen kann.
3. Kirche muß zu einer zweiten Komm-Struktur finden.
In den letzten Jahrzehnten hat sich Kirche geradezu zerfleddert, indem sie sich mit fast jeder gesellschaftlichen Randgruppe beschäftigte. Darüber hat sie ihre Hauptzielgruppe aus den Augen verloren. Luther wußte noch, daß seine Zeitgenossen nach dem gnädigen Gott fragten. Kennen wir die Hauptfragen heute? Meiner Erfahrung nach steht die Sinnfrage im Vordergrund. Und die Suche nach religiöser Erfahrung. Es gilt wieder, Zentren mit geistlicher Ausstrahlung zu schaffen, von denen Menschen sich angezogen fühlen. Das kann ein weiter Weg bis dorthin sein, aber wie sagt das Sprichwort: ,,Wer heute keine Vision hat, hat morgen kein Unternehmen mehr." In meinem Pfarrhaus in Latdorf versuchen wir, so etwas zu werden. Den Kern bildet ein Ehepaar, das ich auf Sponsoringbasis beschäftigt habe sowie eine junge Frau, die derzeit bei mir wohnt. Wir treffen uns jeden Morgen zum Gebet. Gäste nehmen daran teil. Und allmählich bemerken wir, daß unser Beten Früchte trägt: zur jungen Gemeinde treffen sich mittlerweile gut 30 Leute jeden Freitag. Zu den Konzerten kommen immer mehr Menschen aus nah und fern. Und seit neuestem explodiert gar der Frauenkreis. Fast jeden Tag sind Jugendliche im Pfarrhaus , um mit uns zu arbeiten. Und die Gemeindegrenzen spielen dabei schon längst keine Rolle mehr. Wir haben ein bestimmtes Profil - wir sind fromm aber offen für alle - und das wirkt anziehend.

4. Mehr Professionalität
* Wie melden sich eigentlich kirchliche Mitarbeiter am Telefon? Da kann man die tollsten Überraschungen erleben.
* EDV: Welches Pfarramt hat eine Internetseite? Wer arbeitet mit einem professionellen Buchführungsprogramm? Im Osten geht das alles noch per Hand in einem großen Buch. Welches Pfarramt kann seine aktuellen Daten über die eine Computer-Telefon-Verbindung abrufen? Der Datenaustausch mit den Meldeämtern funktioniert ja im Westen ganz gut. Da hat der Osten gewaltigen Nachholbedarf. Aber noch immer gibt es Pfarrämter ohne Fax und Anrufbeantworter.
* Vermögens-, Miet- und Pachtverwaltung: Ich bin als Pfarrerin für die gesamte Miet- und Pachtverwaltung meiner Gemeinden zuständig. Es gibt in meiner Landeskirche keinen Profi dafür (auch nicht im Landeskirchenamt! ).
* kirchliches Erscheinungsbild (Corporate Identity). Was erhalten wir für Briefe von Kirchens? Teilweise mit Schreibmaschine geschrieben, bei der die Typen durchhauen. Und erst die Briefköpfe! Ich vermisse ein eingängiges Logo, ein durchgängiges Erscheinungsbild und Pfarrer und Mitarbeiter mit Visitenkarten.

5. Verantwortung delegieren
In der Industrie sagt man: Verantwortung gehört an den Point of sales, d.h. dorthin, wo sie ausgeübt wird. Beispiel:
Bei einem Automobilhersteller ist man der Ansicht, daß der Kunde auch einen guten Service verdient. Vor allem, wenn es um Garantie- und Kulanzfragen geht. Da will man ausgesprochen korrekt und großzügig sein. So weit so gut. Aber um eine absolute Gerechtigkeit zu erreichen - damit der nicht am meisten kriegt, der am lautesten schreit - hat man angefangen, jeden möglichen Fall in ein Computersystem einzugeben. Big brother is watching you. Kontrolle absolut. Aber woher soll der Computer wissen, wenn ein Fehler zum ersten Mal auftaucht? Da versagt nämlich alle Logistik und Statistik - der Kunde bleibt auf seinem Schaden sitzen bzw. muß zahlen. Und glauben Sie ja nicht, die Mitarbeiter wüßten nicht, wie sich auch dieses System überlisten läßt!

Ein anderer Automobilhersteller hat das anders gelöst: Er garantiert seinen Händlern die volle Kostenerstattung im Garantie- und Kulanzfall. Denn nur vor Ort kann wirklich entschieden werden, ob das nun Garantie oder Kulanz oder keines von beiden ist. Und diesen Händlern wird die Entscheidung darüber zugetraut. Ich habe das damals mitbekommen, mit welchem Herzklopfen dieser Weg eingeschlagen wurde. Und Sie werden es kaum glauben: Die Kosten für Garantie/Kulanzfälle gingen zurück! Und Kundenumfragen bewiesen, daß auch hier nicht am falschen Fleck gegeizt wurde: Die Kundenzufriedenheit mit diesem Punkt stieg!

Ich möchte Kirche ermutigen, sich ein Beispiel an diesem zweiten Automobilhersteller zu nehmen. Ein Vorschlag: Mehr Geld in die Gemeinden - wir erhalten z.B. nur ca. ¼ der Kirchensteuereinnahmen - , aber auch die Verantwortung dafür.

6. Geistliche Weite und Integration der verschiedenen Strömungen
Der Spaltpilz ist die evangelische Krankheit. Sollen wir charismatische Gottesdienste zulassen? Darf es Heilungsgebet geben? Immer wieder entstehen Gemeinden außerhalb der Landeskirche.
Ich denke, wenn aber eine Gemeinde eigene Ziele und Grundsätze erarbeitet hat, dann hat sie auch die Kriterien an der Hand, um mit andersdenkenden Mitmenschen im Gespräch zu bleiben. Die Kunst heißt: Man ist zwar für alle offen, aber nicht für alles!

7. Streitkultur
Konflikte sollten wir in der Kirche nicht unter den Teppich kehren, sondern austragen. Meist haben wir das nicht gelernt. Und als Christen haben wir noch einmal extra Schwierigkeiten mit diesem Punkt. Jemand beschrieb mir einmal den typischen Christen als "klein, lieb und hinterhältig". Bei allem Spott: da ist etwas Wahres dran. Offenheit und das Austragen von Meinungsverschiedenenheiten sind nicht unsere Stärke. "Bei Kirche streitet man nicht", heißt es.

In der Industrie gibt es sehr gute Seminare zu diesem Thema. Warum holen wir uns nicht dort Hilfe?

8. Restrukturierung
Wir brauchen offene Gemeindegrenzen, die eine Möglichkeit zum "Umpfarren" oder "Umgemeinden" von Kirchenmitgliedern geben. Wir sind auf dem Weg von der Ortsgemeinde zur Personalgemeinde. Dem gilt es Rechnung zu tragen. Bereits in wenigen Jahren wird es - zumindest im Osten Deutschlands - auf der kirchlichen Landkarte weiße Flecken geben. Schon jetzt habe ich ja vier Gemeinden und es ist abzusehen, daß weitere hinzukommen werden. Irgendwann wird man nicht weiter zusammenfassen können! Dennoch hält man an einem flächendeckenden Versorgungsdenken fest, was letzten Endes nur zu einer Überlastung der Pfarrer führt. Hier muß völlig umgedacht werden. Es gilt, ,,Missionsstationen" zu errichten, Zentren mit geistlicher Ausstrahlung.

9. Ausbildung der Pfarrer
Wer in einem Industrieunternehmen nach seinem Studium anfängt, ist in der Regel erst einmal Sachbearbeiter. All das, was er für seinen Beruf braucht, erwirbt er sich als ,,Training on the job". Lebenslanges Lernen heißt das Motto. Es gibt einen deutlichen Trend zur Zweit- und Drittausbildung. Und Führungskraft wird man erst nach ein paar Jahren. Regelmäßige Beurteilungen sind eine Selbstverständlichkeit. Eine zweite möglichst praktische Berufsausbildung würde dem Theologennachwuchs helfen, nötigenfalls auch auf eigenen Füßen zu stehen. Und es würde ihn befähigen, in der Welt zu bleiben. Und wer weiß, vielleicht zwingt uns die finanzielle Situation eines Tages dazu, Pfarrer nach dem Zeltmacherprinzip anzustellen. In Ostdeutschland wird darüber bereits laut nachgedacht.

10. Externe Berater
Niemand ist gefeit vor der Krankheit namens Betriebsblindheit. In der Industrie ist es daher üblich, externe Berater zu beschäftigen, um die Sicht von außen in den Betrieb hineinzutragen. Selbstverständlich stehen auch die Landeskirchen sowie die einzelnen Kirchengemeinden in Gefahr, einer gewissen Betriebsblindheit zu erliegen. Aus diesem Grunde habe ich Menschen aus meinem Bekanntenkreis gebeten, meine Arbeit in Latdorf kritisch zu begleiten. Und ich bin überzeugt, es ist nicht mit einer einmaligen Beratung, so wie sie McKinsey in München durchgeführt hat, getan. Wir alle leben in Prozessen kontinuierlicher Veränderung. Hoffentlich haben wir unsere Probleme von heute morgen gelöst. Aber dann werden wir neue haben. Beratung ist also eine längerfristige Begleitung, auf die sich beide Seiten einlassen. Bei mir sieht das so aus, daß wir einmal im Jahr - anfangs war das häufiger - ein ausführliches Treffen haben. Mit ,,wir" meine ich Gemeindekirchenrat und Berater. Dazwischen gibt es Telefonate, Briefe, Faxe und Besuche einzelner Berater (gute Freunde aus Kirche und Industrie, die meine Arbeit liebevoll und kostenlos begleiten).

Ein letzter Gedanke: ,,Gott läßt seine Kirche nicht sterben", wird immer wieder behauptet. Ich bin mir da nicht so sicher. Christen wird es hoffentlich geben, solange diese Erde steht. Aber in welchen Organisationsformen sie leben werden - wer weiß. Mut macht mir die Tatsache, daß die Kirche seit bald 2000 Jahren existiert - trotz ihrer Pfarrer, trotz ihrer Schwächen und trotz ihrer Fehler. Gott vermag auch auf krummen Linien gerade zu schreiben.



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